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    10 Erkenntnisse der Neurowissenschaften zur Verbesserung des Lernens

    Neurowissenschaften zur Verbesserung des Lernens
    Von Ignacio Morgado

    Philosophische und theoretische Überlegungen zu Lehre und Bildung im Allgemeinen gibt es zuhauf. Auf diesen Überlegungen aufbauend, präsentieren wir hier eine Reihe praktischer Empfehlungen, die sich auf Forschungsarbeiten in Psychobiologie und kognitiver Neurowissenschaft stützen. Mit ihnen lassen sich die akademischen Leistungen von Lehrenden und Studierenden verbessern, ungeachtet des jeweiligen Fachs, Niveaus oder Bildungskontexts.

    Das Gehirn zum Lernen vorbereiten

    1. Gesättigte Fette in der Ernährung vermeiden

    Sie schränken die Wirkung der NMDA-Rezeptoren ein. Diese Moleküle im Gehirn gehören zu den Mechanismen neuronaler Plastizität und ermöglichen die Bildung von Gedächtnisinhalten etwa im Hippocampus und der Hirnrinde. Aktuelle Experimente zeigen, dass kalorienärmere Ernährung nicht nur Lernen und Erinnerungsvermögen begünstigt, sondern auch die meisten anderen mentalen Vorgänge; außerdem verlangsamt sie den Alterungsprozess.

    2. Regelmäßig genügend schlafen

    Ausschlafen macht das Gehirn lernbereit, und der Schlaf nach dem Lernen stärkt die Herausbildung von Gedächtnisinhalten und das Erinnerungsvermögen. Das ist deswegen so, weil die gleichen Neuronen, die zum Verarbeiten und Speichern der Lerninformation aktiviert werden, im Schlaf erneut aktiv sind. Das geschieht dann sogar schneller, bevorzugt bei denjenigen Neuronen, die die wichtigeren Informationen speichern. Durch nächtlichen Schlaf übt und stärkt das Gehirn das tagsüber Gelernte.

    Der Schlaf erleichtert zum einen das Lernen und stärkt die Gedächtnisleistung. Zum anderen reorganisiert und strukturiert er geistige Inhalte und ermöglicht es somit, neu gelernte Information in bereits bestehende Wissensschemata einzugliedern. Der Schlaf sorgt also dafür, dass wir Regeln und verborgene Regelmäßigkeiten in der neu erhaltenen Information entdecken können, er ermöglicht Schlussfolgerungen, wandelt implizites in explizites Wissen um und beeinflusst sehr wahrscheinlich unsere Intuition und Kreativität.

    3. Regelmäßig Sport treiben

    Aerobic kommt den Leistungen des Gehirns in allen Altersstufen zugute. Sport verbessert das Gedächtnis und erhöht Flexibilität und Schnelligkeit bei der Informationsverarbeitung. Man hat festgestellt, dass 30 Minuten Fahrradfahren oder Laufen genügen, um Reaktionszeit und Informationsverarbeitung im Gehirn zu verbessern. Dies geschieht, weil die körperliche Betätigung den Wachstumsfaktor BDNF ausschüttet, ein Gehirnprotein, welches die Plastizität bzw. die Fähigkeit der Neuronen erhöht, die fürs Lernen notwendigen Verbindungen untereinander herzustellen, außerdem die Anzahl der täglich neu entstehenden Neuronen erhöht und deren Gefäßbildung und Blutzufuhr stärkt. Körperliche Aktivität erzeugt definitiv eine Art Schmierstoff, der die Gehirnmaschinerie beim Lernen, bei der Gedächtnisbildung und beim Erinnern unterstützt.

    Vorgehensweisen zur Verbesserung von Lernfähigkeiten und Lernleistung

    4. Motivierende Information über den Lerngegenstand bereitstellen

    In Situationen, bei denen Emotionen im Spiel sind, oder bei moderatem Stress kann die Aktivierung von Hirnstrukturen wie der Amygdala sowie die Freisetzung von Hormonen wie Adrenalin und Glucocorticoiden im Blut das Lernen und Erinnern erleichtern, indem sie direkt oder indirekt auf die Neuronalnetze des Gehirns einwirken. Die Glucocorticoide regulieren außerdem die Präsenz der erwähnten NMDA-Rezeptoren im Gehirn und fördern epigenetische Änderungen, die in der DNA der Neuronen den Ausdruck derjenigen Gene voranbringen, die die Synthese der zur Gedächtnisbildung notwendigen Moleküle ermöglichen.

    Diese Emotion bzw. moderaten Stress bei den Lernenden führt man herbei, indem man ihnen zunächst motivierende Informationen über den Lerngegenstand gibt. Ein bisschen Stress ist definitiv nicht schlecht.

    5. Immer wieder das Arbeitsgedächtnis trainieren

    Das Arbeitsgedächtnis benutzen wir zum Nachdenken und Überlegen, für die Zukunftsplanung, und wenn wir Entscheidungen treffen. Dank seiner behalten wir etwa mögliche Züge einer Schachpartie oder verschiedene Optionen bei einer Entscheidungsfindung. Fächer wie Philosophie oder Mathematik fördern diese Art Gedächtnis, das eng mit der fließenden Intelligenz verbunden ist, d.h. mit der Fähigkeit, zu überlegen und neue Probleme unabhängig von Vorwissen zu lösen. Das Arbeitsgedächtnis hängt von Frontal- und Parietallappen des Gehirns ab; seine intensive Beanspruchung erhöht die Aktivität dieser Gehirnlappen und verbessert auch die neuronalen Verbindungen zwischen den beiden Hirnhälften. Es ist möglich, die Verbesserung bei der Fähigkeit zur Ausführung einer bestimmten Aufgabe des Arbeitsgedächtnisses auf eine andere weniger trainierte Aufgabe zu übertragen. Dabei ist das Gelingen umso wahrscheinlicher, je mehr Hirnprozesse bei beiden Aufgaben gemeinsam beteiligt sind.

    Verbesserung des Lernens-2

    6. Das Lernen anhand von Fragen leiten

    Diese Vorgehensweise motiviert die Lernenden, fokussiert ihre Aufmerksamkeit und macht sie zu einer Art Sherlock Holmes, also zu einem Detektiv oder Forscher, der in jeglicher Informationsquelle die mögliche Antwort auf offene Fragen sucht. Außerdem zeigt man dem Lernenden so, wie er am besten arbeiten und Lernautonomie bekommen kann; d.h. es ist auch eine Möglichkeit, die Fähigkeit des Lernenden zum Selbststudium zu erhöhen.

    7. Sich das Gelernte häufig ins Gedächtnis rufen

    Die Erinnerung dient zum einen der Überprüfung des Gelernten und außerdem brauchen wir sie zum Weiterlernen. Das Abfragen von kürzlich gelernten Informationen hilft dem Langzeitgedächtnis, da es die neuronalen Netze des Erinnerns in die darauf folgenden Lernmöglichkeiten einbezieht. Außerdem kann man dadurch die Aufmerksamkeit länger halten und vermeiden, beim Textelesen auf dem Computerbildschirm abgelenkt zu werden. Darüber hinaus erhöht diese Aktivität das subjektive Gefühl, etwas zu lernen und verringert daher die Unruhe im Hinblick auf spätere Prüfungen.

    8. Mündliche Prüfungen durchführen

    Vorträge oder mündliche Prüfungen ermöglichen nicht nur eine eingehende Überprüfung der erworbenen Kenntnisse, sondern regen vor allem zu einer Lerntechnik an, die mehr auf dem Verstehen des Stoffs beruht als auf simplem Auswendiglernen. Außerdem handelt es sich dabei um Methoden, die viel erfolgreicher ein Langzeitgedächtnis erzeugen als eine Lernmethode, die darin besteht, immer wieder Texte oder Notizen durchzugehen.

    Relevante Bildungszusätze: Sprachen und Lesen

    9. Sprachen erwerben

    Menschen, die sich in der Kindheit mehrere Sprachen aneignen und sie im Laufe ihres Lebens sprechen, entwickeln eine höhere selektive Aufmerksamkeit sowie eine bessere Praxis, mentale Inhalte umzuwandeln. Dies macht es ihnen leichter, komplexen Lernstoff aufzunehmen, vor allem solchen, bei dem veränderte Regeln der Ausführung zur Anwendung kommen. Die Ergebnisse vieler Experimente zeigen, dass Zweisprachige schneller und effektiver als Einsprachige sind, wenn sie etwa Gegenstände nach ihrer Farbe einordnen und sie sie plötzlich nach ihrer Form klassifizieren sollen, auch wenn ihr Wortschatz in den einzelnen Sprachen geringer sein mag. Die größere Umsetzungsfähigkeit und geistige Flexibilität zweisprachiger Menschen zeigt sich im Leben häufig; sie wurde in allen Altersstufen beobachtet und bleibt im Alter länger erhalten als bei Einsprachigen. Um einen Automatismus wie den sprachlichen zu erzeugen und aus ihm Nutzen zu ziehen, muss man schon früh damit beginnen und ihn regelmäßig trainieren. Den Lehrern fällt ebenso wie Eltern und Erziehern bei der Heranführung an viele Sprachen in den ersten Lebensjahren eine wichtige Rolle zu.

    10. Die Macht des Lesens

    Von allen intellektuellen Tätigkeiten, die die mentalen Fähigkeiten steigern, ist das Lesen die einfachste sowie mit Sicherheit die mit der besten Kosten-Nutzen-Bilanz. Lesen ist eine der besten Übungen, um das Gehirn in Form zu halten, weil das Lesen eine große Zahl mentaler Prozesse erfordert, wobei Wahrnehmen, Erinnern und Überlegen herausragen. Beim Lesen aktivieren wir vorzugsweise die linke Gehirnhälfte, die bei den meisten Menschen mehr analytische Fähigkeiten aufweist; aber viele Bereiche aus beiden Hirnhälften werden aktiviert und nehmen am Prozess teil. Buchstaben, Wörter, Sätze entschlüsseln und sie in geistige Klänge umzuwandeln erfordert die Aktivität großer Bereiche des Neocortex. Der Occipital- und der Temporallappen werden aktiv, wenn der semantische Wert der Wörter erkannt werden soll. Sobald wir geistig den Klang der gelesenen Wörter wachrufen, wird der Motorcortex aktiv. Die Erinnerungen, die die Interpretation des Gelesenen wachruft, aktivieren mit Macht den Hippocampus und den Gyrus temporalis medius, einen Teil des Temporallappens. Beide sind für das Gedächtnis entscheidend.
    Erzählungen und emotionaler Inhalt des Geschriebenen, fiktiv oder nicht fiktiv, aktivieren die Amygdala und weitere emotionale Zonen des Gehirns. Das Nachdenken über Inhalt und die Semantik des Gelesenen aktiviert den präfrontalen Cortex und das Arbeitsgedächtnis.

    Lesen stärkt auch soziale Fähigkeiten und Empathie, abgesehen davon, dass es das Stressniveau des Lesers senkt. Buch und Lektüre sollten als leicht verfügbare und effektive Übung schon ab früher Kindheit in die Bildung integriert und lebenslang beibehalten werden.

     

    Zusammenfassung

    Ein geistig anspruchsvolles Umfeld und alle intellektuellen Tätigkeiten, die Mühe erfordern und eine Herausforderung darstellen, sind generell geeigneter für das Herausbilden eines guten Gedächtnisses als jene Aktivitäten, die fast mühelos zu bewältigen sind. Wir sollten aber auch nicht traditionelle Hilfsmittel verschiedener Bildungsebenen verachten wie etwa Diktate, das Zusammenfassen von Texten oder das Auswendiglernen grundlegender Informationen.
    Rechtschreibregeln, historische Ereignisse, Daten und Persönlichkeiten, Länder, Hauptstädte und geographische Namen sind ernstzunehmende Beispiele, da sie wertvolle Ressourcen fürs implizite Gedächtnis darstellen, die man durchs Wiederholen lernt und die außerordentlich nützlich sind als Unterstützung für spätere mentale Überprüfungen und komplexe Gedankengänge. Es ist erwiesen, dass adäquate Bildung dazu tendiert, die Leistung der Lernenden anzugleichen und so zwischen diesen Menschen ausgeprägte Gegensätze und Vergleiche zu vermeiden, die dem Lernprozess nicht immer guttun.

     

    Dr. Ignacio Morgado ist Professor für Psychobiologie und Leiter des Neurowissenschaftlichen Instituts an der Universitat Autónoma in Barcelona. Zu seinen Veröffentlichungen zählt “Aprender, recordar y olvidar: Claves cerebrales de la memoria y la educación” (Barcelona, Ariel, 2014) [Lernen, Erinnern und Vergessen: Wie das Gehirn Gedächtnis und Bildung ermöglicht].

    Klaus Walter: traducción del texto